XVI.

[129] Auch der Generalintendant, Baron von Loën, rief mich zum Gastspiel an die Weimarsche Hofbühne. Der liebe Herr hatte es mir längst verziehen, daß ich ihm früher davongegangen. Ich überließ ihm Honorar und alle Bestimmungen für mein Gastspiel. Wie ein echter Kavalier, der er durch und durch war, hat er sich benommen.

Nicht ich allein, so mancher meiner Kollegen verlor in dem guten, liebenswürdigen Bühnenleiter von Loën einen wahrhaften Gönner und Freund. Er hat ausgerungen – ein Denkmal hat er sich aber im Herzen manches Künstlers gesetzt. Ehre seinem Angedenken!

Mein stets so gefälliger hoher Gönner, der Prinz Weimar in Stuttgart, hatte mir an den Erbgroßherzog von Weimar, dessen Gemahlin seine Tochter, ein Empfehlungsschreiben mitgegeben, infolge dessen ich außer meinem Gastspiele auf der Hofbühne zu einer Reutervorlesung ins Schloß befohlen wurde. Die erste Abteilung meiner Reuterschen Vorträge las ich mit Uebertragung jener plattdeutschen Worte ins Hochdeutsche, für welche auch in Thüringen das Verständnis fehlt, allein in der Pause befahl die Großherzogin mich zu sich. Die hohe Frau, als von holländischer Abkunft, wollte originalplattdeutsch hören; ich las dann die zweite Abteilung, wie Reuter geschrieben, im Originaldialekt, und blieb für die übrigen – unverstanden. Auch den Großherzog sah ich nicht mehr lachen. Wer der holländischen Sprache mächtig ist, versteht Fritz Reuter besser. Ich pflege mich mit Holländern oft zu unterhalten, der[130] Holländer spricht seine Sprache und ich plattdeutsch, und fast kein Wort bleibt auf beiden Seiten unverstanden. So ging es auch der Großherzogin von Weimar, sie hatte den Vollgenuß in der zweiten Abteilung meiner Vorlesung, aber die andern verstanden gar nichts mehr.

In Weimar fand ich meinen alten Freund Otto Lehfeldt wieder. Er war pensioniert worden mittlerweile, aber noch immer der unermüdliche Anekdoten-Erzähler, und als solcher Meister. Hat er doch selber so viele Theatergeschichten geliefert. –

Unter der Intendanz des Baron von Loën in Weimar reichte ein russischer Graf, der sich der Protektion des Großherzogs erfreute, sein Drama »Iwan der Grausame« ein. Das dilettantenhaft gearbeitete Stück wurde zum größten Verdruße Lehfeldts, der die riesenumfangreiche Titelrolle lernen mußte, zur Aufführung angenommen. Der Intendant übergibt selbst an Lehfeldt die voluminöse Rolle des Iwan mit der Bitte, dieselbe doch ja recht fleißig zu studieren, damit das Drama des Grafen beifällig aufgenommen würde. Lehfeldt wiegt die starke Rolle in der Hand und fragt: »Herr Baron, diese Bibel soll ich auswendig lernen?« »Ja, Herr Lehfeldt, und zwar so rasch sie können,« erwidert der Intendant, »der gräfliche Dichter aus Rußland hat Eile und will selbst zu den Proben kommen!« Resigniert willigt Lehfeldt ein und verspricht baldmöglichst Iwan den Grausamen zu liefern.

Der Tag der Probe rückt heran. Die Mitglieder der Weimarschen Hofbühne wurden ersucht, im Frack und weißer Halsbinde zu erscheinen, da hohe Herren vom Hofe, wahrscheinlich der Großherzog selbst, zur Probe kommen würden.

In der Mitte des dunkeln Parquets saßen, vor sich eine Lampe, um nachlesen zu können, der Intendant und der Autor des Dramas, der russische Graf, in nervösester Aufregung. Der Regisseur gibt das Zeichen zum Beginn der Probe. Otto Lehfeldt im Frack tritt auf und spricht seinen langen Monolog als Iwan. Befriedigend nickt der Dichter dem Intendanten zu.[131] Plötzlich verfinstern sich die Züge des Grafen, er springt auf und ruft in russisch gefärbtem Deutsch zur Bühne hinauf: »O bitte serr, Herr Lehfeldt, warum haben Sie gestrichen hier? Gerade von der Stelle, die Sie haben gestrichen, ich verspreche mir serr viel Wirkung!«

Lehfeldt tritt an die Rampe und ruft außerordentlich höflich ins Parquet dem Grafen zu: »Mein hochverehrter Herr Graf! Schiller, Goethe, Shakespeare, alle diese großen Dichterheroen haben sich Striche gefallen lassen. Ihr eminent durchgeistigtes Stück ist ja eben so gut als unsere klassischen Dichtungen, aber glauben Sie mir, mein hochverehrter Herr Graf, Ihr eminentes Stück kann durch einige kleine Striche nur gewinnen!«

Der Graf beruhigt sich.

Andere Personen betreten die Scene, und Lehfeldt entfaltet seine ganze Kraft, so daß es selbst den anwesenden Herren vom Hofe, die in einer Dunkelloge saßen, imponiert.

Man gelangt zu einer Hauptscene Iwans, in der Lehfeldt wieder einen großen Strich angebracht hat. Krebsrot springt der vor Aufregung zitternde Dichter wieder auf und schreit: »Um Gotteswillen, Herr Lehfeldt, bitte serr, was thun Sie? Sie ruinieren mir mein Stück, der Sinn wird entstellt, wenn Sie so unmotiviert streichen – hier im Kulminationspunkt der spannenden Handlung!«

Der Intendant hat vergeblich den gräflichen Autor zu beruhigen versucht und winkt Lehfeldt zu, nichts zu erwidern. Lehfeldt richtet sich indes in seiner ganzen herkulischen Größe auf und mit erhobenem Ton, im Pathos eines König Lear erwidert er mit erzwungener Höflichkeit: »Mein – sehr – verehrtester Herr Graf! Von ›unmotiviert‹ kann wohl nicht die Rede sein. Ihr wundervolles Stück verlangt jetzt das rapideste Tempo, wir müssen vorwärts. Tiraden – verzeihen Sie den Ausdruck, mein hochzuverehrender Herr Graf – sind hier lebensgefährlich – in dieser Ansicht habe[132] ich mir erlaubt, meine großen, wohlthuenden Striche anzubringen.«

Kaum hat auch der Intendant den Dichter wieder beruhigt, als Lehfeldt in der nächsten Scene gleich über zwei gedruckte Seiten, die ihm überflüssig erschienen, hinwegspringt. Das ging dem Russen über den Spaß, und verzweifelt ruft er: »Herr Lehfeldt – es ist genug, Sie schneiden mir durchs Fleisch!« und zum Intendanten gewendet erklärt er: »Herr Baron, ich ziehe mein Stück zurück, wenn diese Stelle nicht wieder hergestellt wird.«

Nun tritt Lehfeldt an die Rampe, mit Höflichkeit beginnt er wieder: »Mein hochverehrter Graf« (den Herrn ließ er schon fort), plötzlich packt ihn die Nervosität und er fährt fort: »ich habe den Sch–und1 einmal auswendig gelernt, umlernen kann ich nicht!«

Der Dichter sinkt vernichtet zusammen, der Hof entfernt sich, der Intendant stürzt auf die Bühne auf Lehfeldt zu: »Herr Lehfeldt, wie können Sie sich so weit vergessen?« »Pardon, Herr Baron«, sagt Lehfeldt, »ich bin wohl ein wenig unhöflich gewesen?«

»Ein wenig?« sagt Herr von Loën entsetzt, »ich werde Mühe haben, die Herrschaften wieder zu beruhigen!« –

Das Stück »Iwan der Grausame« wurde, wie so manches Protektionsstück an den Hofbühnen, aufgeführt und vom Publikum abgelehnt. Lehfeldt nahm die Vorgänge auf den Proben in Kommission und erzählte sie oft mit unnachahmlichem Humor! – –

Lehfeldt gastierte zumeist bei seinem Freunde, dem Direktor Gumtau in Halle.

Einmal hatte er dort Probe von Richard III. Während er den Monolog spricht, kommt ein Dienstmann auf die Bühne, der von einem Schauspieler nach seinem Anliegen gefragt wird. Als der Dienstmann antwortete, er sei von[133] dem Orchestermitgliede Lehmann abgesandt worden, dessen Baß aus dem Orchester zu holen, kam der Schauspieler auf den teuflischen Gedanken, ihn zu Lehfeldt wegen dem Baß zu schicken, und mit den Worten »Gehen Sie zu jenem Herrn, der dort spricht«, schob er den Dienstmann auf die Bühne. Lehfeldt, der, wie gesagt, gerade seinen Monolog probierte, wich, ergrimmt ob dieser Störung, einige Schritte zurück und betrachtet sich den Mann im blauen Kittel. Der Dienstmann faßte auf das Winken des Schauspielers aus der Kulisse wieder Mut und geht näher an Lehfeldt heran. Jetzt fuhr Lehfeldt ihn wutschnaubend an: »Herr, was wollen Sie denn hier?« »Ick wollte man bloß Lehmann seinen Baß holen,« stammelte eingeschüchtert der Gefragte. »Was wollen Sie?« schrie Lehfeldt. »Ick wollte Lehmann seinen Baß holen« war abermals die Antwort. »Gumtau, rette mich vor diesem Kerl!« jammert Lehfeldt verzweiflungsvoll, »hast du es gehört, er will Lehmann seinen Baß – ich kann heute nicht spielen!« »Ja Lehmann ooch nich, wenn er seinen Baß nicht hat!« meinte Gumtau. Der Baß wurde verabfolgt und die Probe ging weiter. –

Direktor Gumtau war bekanntlich von allen Menschen, die ihn näher kennen gelernt hatten, wegen seiner guten Eigenschaften als Mensch, Regisseur und Direktor sehr geachtet und geschätzt. Ich sah ihn zuletzt kurz vor seinem Ende in Stuttgart, und fand ihn sehr mißgestimmt; er hatte bis dahin das alte Theater in Halle geleitet und konnte den Schmerz nicht überwinden, daß man ihm das dortige neu erbaute Theater nicht übergeben hatte. – Gumtau konnte sehr ausfallend werden, und Mitglieder, die er nicht leiden konnte, hatten viele Grobheiten von ihm zu dulden. In einer Saison hatte er oft in Unfrieden mit seinen Mitgliedern gelebt, und diese, der Grobheiten überdrüssig, hatten einstimmig in einem an ihn gerichteten Schreiben erklärt, daß sie nicht gesonnen seien, sich noch länger seine Grobheiten gefallen zu lassen. Auf dieses Schreiben antwortete Gumtau nicht, mied aber sein Theater und ließ seine Regisseure die Stücke inscenieren. Nach einigen Wochen erscheint er plötzlich[134] auf der Probe im Frack und mit weißen Handschuhen, steckt den Kopf durch die Mittelthüre und fragt mit süßlächelndem Gesicht: »Darf ick denn noch 'rin in mein Theater?« Durch schallendes Gelächter verziehen ihm alle Anwesenden seine ausgeübten Grobheiten. – –

Am Schlusse einer Saison, in der er sich auch viel mit seinen Mitgliedern herumgeärgert hatte, bestellte er diese am letzten Gagetage sämtlich auf die Bühne mit dem Ersuchen, in Gesellschaftskleidung zu erscheinen. Als die Mitglieder sich versammelten, bemerkten sie, daß der Theatermeister einen Altar aufbaute. Bald darauf erschien der Direktor wieder im Frack, kniet vor dem Altar nieder, blickt mit gefalteten Händen nach oben und sagt: »Herr Jott ick danke dir, det du mir von diese Bande endlich erlöst hast!« – –

Als Gumtau Direktor des Nationaltheaters in Berlin war, wurde das »Käthchen von Heilbronn« neu insceniert. Mit seinem Regisseur über Arrangements in heftigen Streit geraten, sagt dieser endlich: »Herr Direktor, einer von uns kann die Sache nur machen, entweder Sie oder ich!« »Na, dann machen Sie den Kitt« sagt Gumtau ganz gemütlich, entfernte sich und kam auf keine Probe zu dem Stück mehr. Die Sehnsucht trieb ihn wohl in die Nähe des Theaters, aber hinein ging er nicht. Bei der Generalprobe war es ihm endlich gelungen, unbemerkt in das Theater zu gelangen. Er schlich sich in das Orchester und sah von hier aus hinter der Rampe versteckt der Probe zu. Als der Einsturz des brennenden Schlosses vor sich ging und zwischen den Trümmern der Friedensengel mit dem Palmzweig erschien, verlor er die Geduld, denn er bemerkte, daß eine ganz korpulente, alte, häßliche Choristin den »Engel« darstellte. Mit den Worten: »Herr Regisseur, erlauben Sie vielleicht jütigst, det ick mir eene Frage jestatte?« erschien er plötzlich zum Erstaunen Aller über der Rampe. »Bitte, Herr Direktor, fragen sie nach Herzenslust,« erwiderte der Regisseur. Gumtau winkt nun dem in[135] dem Wolkenwagen schwebenden Engel zu und ruft: »Sie! Sie, kleener Engel, kommen Sie mal en bisken herunter!« Als die Theaterkutsche mit dem Engel heruntergelassen ist, fragt er: »Sagen Se mal, Sie Engel, wie heeßen Sie denn eigentlich?« Vergnügt grinsend antwortet der Engel: »Herr Direktor, ick heeße Runschke!« »Ooch det noch!« schrie Gumtau ganz verzweiflungsvoll und stürzte zurück an seinen Platz im Orchester.

Fußnoten

1 Er brauchte einen anderen, nicht druckreifen Ausdruck.


Quelle:
Junkermann, August: Memoiren eines Hofschauspielers. Stuttgart [1888]., S. 136.
Lizenz:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Fräulein Else

Fräulein Else

Die neunzehnjährige Else erfährt in den Ferien auf dem Rückweg vom Tennisplatz vom Konkurs ihres Vaters und wird von ihrer Mutter gebeten, eine große Summe Geld von einem Geschäftsfreund des Vaters zu leihen. Dieser verlangt als Gegenleistung Ungeheuerliches. Else treibt in einem inneren Monolog einer Verzweiflungstat entgegen.

54 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon